Röver-Orgel zu St. Bonifatius in Ditfurt, Kreis Quedlinburg

 

Wer heute auf der B 185 im Bundesland Sachsen-Anhalt unterwegs ist, dem fällt kurz nach dem Weltkulturerbe Quedlinburg der mit seinen 63 m weithin sichtbare Turm der St. Bonifatius-Kirche auf.

Er gehört zur gut eintausend Bürger zählenden Gemeinde Ditfurt, deren prächtige Kirche auf einer Erhebung am Bach der Bode im Landkreis Harz liegt. Ditfurt wurde über Jahrhunderte von der Landwirtschaft geprägt und hatte es mit harter Arbeit zu Selbstbestimmung (gegenüber einem früher adeligen Damenstift) zu bescheiden-bäuerlichem Wohlstand gebracht. Seit 1850 entstand auf den guten Böden eine jetzt industrielle Saatzucht, die in ganz Europa Abnehmer fand und weiteren Wohlstand für die Bürger Ditfurts mit sich brachte.

Aus diesem Selbstbewußtsein heraus, entsteht ab 1901 eine neue Kirche, die mit ihren 300 Sitzplätzen im Kirchenschiff (für die Frauen) und 150 Sitzplätzen auf Emporen( für die Männer) die benachbarten Gebäude des Geläuts wegen (historische Glocken aus dem 12. und 16. Jh.) überragen sollte und Bauschäden des Vorgängergebäudes kompensieren mußte.

 

Bereits bei der Planung wurde der renommierte Orgelbaumeister Ernst Röver (1857-1923) aus dem benachbarten Hausneindorf hinzugezogen, der für die prächtige Kirche eine ebensolche Orgelempore plante, auf die er 1903 für die Summe von 10434 Reichsmark ein wahrhaft stattliches Instrument mit 33 Registern baute.

Bauherren und Orgelbaumeister waren dabei die besten und erlesensten Materialien und Qualitäten für die neue Orgel, die als Referenzinstrument vor den Toren der Meisterwerkstatt lag, gerade gut genug.

Zu dieser Zeit war die Orgelbauwerkstatt Ernst Rövers auf ihrem Zenit der hoch innovativen Orgeltechnik und deren handwerklich-meisterhaften Umsetzung und herausragenden Klanglichkeit. Ernst Röver gehört mit Friedrich Ladegast (1818-1905) zu den überragenden Orgelbaumeistern. Von den knapp 200 in der Orgelbauwerkstatt Ernst Röver erbauten Instrumenten sind knapp 80 erhalten (70 Instrumente stehen davon in Ostdeutschland).

 

Ernst Röver baut folgende Disposition

 

I. Manual C-f'''

Principal 16’

Bordun 16’

Principal 8’

Gambe 8’

Hohlflöte 8’

Gemshorn 8’

Zart gedackt 8’

Octave 4’

Flöte 4’

Quinte 2 2/3

Octave 2’

Cornett 5 fach 8’

Mixtur 3 fach 2 2/3

Trompete 8’

 

 

II. Manual C-f'''

Gedackt 16’

Geigenprincipal 8’

Salicional 8’

Offenflöte 8’

Lieblich Gedackt 8’

Violino 8’

Voix céleste 8’

Fugara 4’

Flöte 4’

Waldflöte 2’

Mixtur 3 fach 2 2/3

 

Pedal C-d'

Offenbass 16’

Violon 16’

Subbass 16’

Gedacktbass 16’

Octavbass 8’

Cello 8’

Flötenbass 8’

Posaune 16'

 

Spielhilfen

II-P, I-P, II-I

16-I-I, 4-II-I

Rollschweller für das Registercrescendo

Schwelltritt für II

vier feste Kombinationen (pp, mf, f, Plenum)

Kalkantenzug

 

Das ganze Werk wird auf sechs Kastenladen mit pneumatischer Traktur errichtet. Ein großer Mehrfalten-Magazinbalg nach Cummings liefert ausreichend Wind mit 95mm Wassersäule auf der Lade.

Die Abnahme der Orgel brachte für die Ditfurter die Bestätigung, den richtigen Orgelbauer gewählt zu haben. Prof. Palme, Orgelsachverständiger aus Magdeburg schriebt 1903 im Abnahmegutachten:

Soll man die famose Tongrundlage der Principale loben, oder sein Wohlgefallen an den schönen Gambenstimmen ausdrücken, von den glanzvoll wirkenden Rohrwerken sprechen, den sanften Stimmen im Oberwerk besonderen Beifall spenden? Man wird eben durch alle Tonwirkungen gefesselt, ganz besonders durch die herrlichen Klangeffekte der Oberwerkstimmen höchst sympathisch berührt. Dazu entwickelt das volle Werk, getragen durch die gute Akustik des schönen Kirchenraumes, eine große Noblesse, Kraft und Fülle des Tons. Die Tonhöhe der Orgel ist ein Normalton, die Stimmung rein und präzis, die Spielart sehr angenehm und bequem. Die ganze Orgel ist ein Meisterwerk ersten Ranges, Material und Arbeit sind ganz vorzüglich, die Intonation charakteristisch, sehr schön die Tonwirkung in den einzelnen Stimmen, wie im vollen Werke ganz ausgezeichnet.“

Diese Röver-Orgel würde, nach dem sie 1917 ihre Prospektpfeifen aus Zinn an die kaiserliche Kriegsmaschinerie abliefern mußte, über einhundert Jahre ihren Dienst versehen und alle orgelmodischen Wellen sicher überstehen, bis sie 2006 gewissenhaft durch die Orgelbauwerkstatt Albert Baumhoer (Salzkotten) restauriert wurde, unterstützt von Mitteln der Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius. Das Instrument gehört in seinem originalen Zustand zu einer in ihrer Vielfalt und Qualität einmaligen Orgellandschaft in Europa.

Ernst Röver hat die Konstruktion der kanzellenlosen Windlade (Kastenlade) perfektioniert. Dabei nutzt er, im Gegensatz zu seinen Orgelbaukollegen seiner Zeit, die auf das Zustromprinzip vertrauten, das sogenannte Abstromprinzip. Röver hatte nämlich beobachtet, das sich ein Winddruck schneller abbaut als aufbaut. Seine Steuerung im Abstromprinzip sieht wie folgt aus:

Die Steuerung der Spielventile steht ständig unter Winddruck. Betätigt der Organist eine Taste, so entweicht blitzschnell dieser Winddruck aus einem kleinen Bleiröhrchen. Durch den umgekehrt eingebauten Mechanismus öffnet sich ohne merkliche Verzögerung das Spielventil unter der Pfeife. Die Tontraktur der kanzellenlosen Kastenlade ist auf diese Weise derartig schnell und zuverlässig, daß sie der Präzision einer mechanischen Traktur in nichts nachsteht. Der Nachteil einer herkömmlichen pneumatischen Traktur hinsichtlich ihres Verzögerungsmoments kann auf diese Weise vollständig ausgeglichen werden. Röver nutzt seine innovative Technik mit einer immer weiter verfeinerten Anordnung und Regulierung der Spielventilsteuerung derartig präzise und zuverlässig, daß Mitbewerber auch mit Nachbauten rasch zurückbleiben mußten.

Bei der Restauration des Instruments 2006 fand Orgelbaumeister Albert Baumhoer die Traktursteuerung vollständig funktionstüchtig vor, noch immer mit schneeweißem Ziegenlieder bezogen. Er führte den außerordentlich guten Erhaltungszustand auch darauf zurück, daß die Röversche Kastenlade über nur wenig bewegte mechanische Teile verfüge, die abnutzen könnten.

Der in einem Turmgeschoß gelagerte mächtige Magazinbalg nach Cummings haucht Spiel- und Registertraktur Leben ein und versorgt die Pfeifen mit frischem Wind. Dieser Magazinbalg steht in krassem Gegensatz zur Windanlage heutiger Instrumente. Der Ditfurter Balg verfügt über eine enorme (Über-)Kapazität, so daß auch vollgriffiges Spiel mit allen Koppeln (incl. Sub- und Superoktavkoppeln) der Windversorgung keinen Abbruch tut. Schaut man sich die Reihe der „Windfresser“ in 16'- und 8'-Lage an, wird schnell klar, warum Ernst Röver hier bei seinem Vorzeigeinstrument ausreichend dimensionierte und damit klanglich ebenso zu überzeugen wußte.

Klanglich sind die Instrumente aus der Werkstatt Röver zwar spätromantisch konzipiert und empfunden, aber dennoch klassisch ausgeführt. Das später von Kritikern der Orgelromantik so empfundene dunkle und gesättigte Klangbild ist bei Röver erstaunlich durchhörbar und verträgt durchaus polyphone Musik.

Natürlich ist das einzig original erhaltene Instrument Ernst Rövers in Ditfurt ein Kind seiner Zeit. Aber neben minderwertigen und industriell hergestellten Orchesterfabrikorgeln (mit ihrem bombastischen Tutti und einer nicht endenwollenden Palette an 8' Registern) ist die Ditfurter Orgel klanglich frisch, höchst variabel in der Registermischung (bis hin zur Imitation durchschlagender Zungenstimmen) und ausgewogenen in der Intonation, was sie äußerst gediegen und wertvoll macht, von der handwerklich vorzüglichen Ausführung und Auswahl der verarbeiteten Materialien einmal ganz abgesehen.

Das Ditfurter Instrument gehört heute zu den herausragenden Instrumenten Sachsen-Anhalts und kann in seiner historisch-klanglichen Bedeutung für die Erhaltung der Orgellandschaft der Spätromantik nicht hoch genug eingestuft werden. Es ist einem glücklichen Umstand zu verdanken, daß Ernst Rövers musikalisch-technisches Erbe dabei nicht dem Mißverständnis einer ganzen musikalischen Epoche und dem Untergang ihrer Orgellandschaft zum Opfer gefallen ist.

 

Peter Ewers

Orgel von Ernst Röver in Ditfurt

Orgelimprovisationen aus der Bonifatiuskirche in Ditfurt.
Peter Ewers improvisiert an der Ernst Röver-Orgel von 1903

Peter Ewers, Improvisation

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